So peinlich wie mir das heute ist: In jungen Erwachsenenjahren habe ich schon mal ein komplettes philosophisches Werk, welches ich geschenkt bekommen habe, der Wiederverwertung zugeführt. Es war eine schöne und komplette Ausgabe von Schopenhauer. Ich war einfach zu jung. Verstanden habe ich kaum etwas, was da geschrieben stand, und ich habe ja gewusst, wie die Welt funktioniert. Ich hatte schon viele chinesische Zitate gelesen und ein I Ging hatte ich auch zuhause. Und die Chinesen waren eh viel cooler, Kung-Fu und so. Also, was sollte mir ein alter Mann schon beibringen können? Aber der Schopenhauer lässt nicht so einfach locker…
25 Jahre später: Ich hatte mich entschieden, einen Monat Auszeit in einem buddhistischen Kloster zu nehmen – komplett offline, nicht erreichbar, ich mit meinen Gedanken und buddhistischen Büchern allein. Nachdem ich mein Zimmer bezogen hatte, ging ich den Speisesaal erkunden. Ich trat ein und einer der Bewohner, ein langbärtiger Mann mit wirrem Blick, blieb direkt von mir stehen. Sein Gesicht – keine dreissig Zentimeter von meinem entfernt – starrte er mich an. Oh, Mann! Wo war ich denn da hineingeraten! Und hier soll ich einen Monat bleiben! Ich bereute meine Entscheidung schon.
In dem folgenden Monat habe ich Daniel als einen unglaublich liebenswerten Menschen kennengelernt - leider zu jung an die falschen Leute und die falschen Substanzen geraten. Daniel hatte grosse Träume. Zurück nach Bern zügeln wollte er. Einen Film gegen Mobbing und Gewalt drehen wollte er. Sein Drehbuch hatte er immer dabei. Richtig fertig wurde es aber nie. Er hatte für seinen Umzug schon sein Zimmer aufgeräumt und viele von seinen Habseligkeiten verschenkt. Mir streckte er ein Buch entgegen mit den Worten: «Du interessierst dich doch für Philosophie, das kannst du haben.» Auf meine Frage, um was es da geht, meinte er nur: «Das weiss ich nicht, das habe ich vor 15 Jahren in Indien gekauft und nie gelesen.»
Dieses kleine, unten abgebildete Buch – das Wichtigste in meiner Sammlung – war genau das eine fehlende Bindeglied. Es hatte mich dazu bewegt, nach der vielen buddhistischen Lektüre nochmals Schopenhauer zu lesen. Diesmal konnte ich ihn nicht mehr ignorieren und habe sofort nach meiner Rückkehr Die Welt als Wille und Vorstellung gelesen – und danach alle anderen seiner Werke. Schopenhauer hat mein zuvor mühsam zusammengesuchtes philosophisches Gedankengebäude sofort erleuchtet und zurechtgerückt – plötzlich ergab alles Sinn…
… Nur für Daniel leider nicht mehr. Er hat sich kurz darauf das Leben genommen.