Sie war sehr jung und traurig. Kein Wort hat sie beim Abendessen gesagt. Alle am Tisch haben gemerkt, dass sie mit der Fassung ringt, und niemand hat sich getraut sie anzusprechen.
Nach dem Abendessen erklärt mir ein Mönch in der Küche, dass sie Probleme hat und hergekommen ist, um 3 Tage zu schweigen. Ich meine darauf zu ihm, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass Schweigen Probleme lösen kann. Und hier im Kloster zu schweigen kann ich mir eh nicht vorstellen. Mit so vielen freundlichen und gut gesinnten Bewohnern würde ich mir eher unfreundlich vorkommen. Ich drehe mich um und sie steht direkt hinter mir, mit ihrem Teller und ihrer Tasse in der Hand. Sie schaut mich an, stellt alles hin und geht wortlos davon. Oh, Mann, wieso kann ich nicht einfach mal meinen Schnabel halten! Immer wieder stolpere ich in solche Situationen.
Am nächsten Tag sitze ich allein im Speisesaal, der eigentlich für 150 Personen ausgelegt ist. Mit meinem Buch und meinem Tee. Plötzlich steht sie neben mir und fragt, ob sie sich zu mir setzen darf. «Klar doch», sage ich. Und dann erzählt sie mir alles. Wie sie in die Stadt gekommen ist und endlich ihren Traumjob gefunden hat, der ihr aber keinen Spass mehr macht. Von Ihrer WG, die eigentlich während Corona cool war. Wenigstens nie allein. Von den Feiern in der WG. Jeden Abend Party mit viel Wein, bis sie sich eingestehen musste, dass sie ein Alkoholproblem hat. Von Ihrem Freund, mit dem sie sich nur noch fetzt. Dass sie in zwei Monaten aus ihrer Wohnung rausmuss und noch nicht weiss, wohin. Dass sie gar nicht mehr in der Stadt bleiben möchte und nur noch weg möchte…
Ich sage nur zu ihr, dass man Probleme nicht durch Weglaufen lösen kann und mir gerade der Refrain von einem Lied in den Sinn gekommen ist. Von Crowded House: «Everywhere you go, always take the weather with you.» Ich meine, ich möchte es ihr aber lieber nicht vorsingen, zu ihrem Schutz. Sie lacht, sie kennt das Lied und entschuldigt sich, dass sie mich beim Lesen gestört hat und mich eine halbe Stunde lang vollgequatscht hat. «Kein Problem», sage ich.
Am nächsten Tag begegne ich ihr auf meinem Weg in den Speisesaal nochmals kurz. Sie reist gerade ab. Sie umarmt mich fest und sagt nur: «Danke für alles», steigt ins Auto und fährt davon. Irgendwie gefasster hat sie auf mich gewirkt, aber vielleicht rede ich mir das nur ein.
… Ich sitze wieder allein im Speisesaal, der eigentlich für 150 Personen ausgelegt ist. Mit meinem Buch und meinem Tee. Und denke an meine erwachsenen Söhne…
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Zum Anhören:
Crowded House - Weather with you
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Zum Nachdenken:
«Deine Sinnesweise musst du ändern, nicht den Himmelsstrich.»
«Länder und Städte entschwinden, deine Fehler werden dir überallhin folgen.»
Seneca: Achtundzwanzigster Brief an Lucilius
