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Der Streit

Waldboden
Waldboden

 

Hätte ich an dieser Wegkreuzung nicht meine Schuhe binden müssen, dann wäre ich ihr nie begegnet. So hatte sie im Wald meinen Weg gekreuzt und ist bei mir stehengeblieben. Sie fragte mich, ob ich ihren Mann gesehen habe. Sie habe ihn verloren. «Nein, mir ist da unterwegs keiner begegnet», entgegne ich. 

Er sei wütend davongelaufen und er rufe sie auch nicht mehr zurück. Schon sieben Mal habe sie probiert, ihn zu erreichen. Er sei ausgeflippt wegen einer Hundehalterin und einer zu langen Leine. Böse Worte seien gefallen. Auf beiden Seiten. Und sie mittendrin habe versucht, den Streit zu schlichten. Sie verstehe auch nicht, wieso er immer so reagiert. Immer so stur. Immer meine er, er habe Recht. Nur alle anderen machen Fehler. Für ihn gibt es keine Links oder Rechts auf seinem Weg. Und überhaupt, die ganzen Biker würden sowieso nur die Wanderwege kaputt machen. 

Sie aber hat ihren Glauben in Jesus gefunden. Sie spüre diese Liebe und könne nicht mehr begreifen, wie man so reagieren könne. Wieso man nicht respektvoll miteinander leben könne. Und der Wald sei doch für alle da. Es sei doch schön, wenn man andere Leute trifft, die auch die Natur geniessen würden. Und Sie engagiert sich jetzt in karitativen Projekten. Es bereite ihr so viel Freude, Gutes zu tun. 

Er aber habe sie dumm genannt, dass sie auf sowas hereinfallen würde. Eine Sekte sei das. Nichts Anderes. Ihr sei nicht mehr zu helfen. Er meine, nach dem Tod sei man eh nur noch ein Haufen Erde. Da komme nichts mehr.

Wie gern wäre sie an so einem schönen Tag wie jetzt wieder sportlich und mit dem Bike unterwegs. Sie habe Sport gemacht, habe es aber wieder aufgegeben, weil er sich zu nichts motivieren konnte. Es wurde ihm schnell alles zu streng. Dann habe sie zehn Kilo zugenommen. Aber sie seien jetzt halt schon seit 35 Jahren zusammen. Die Kinder seien jetzt draussen. Vermutlich bleibe sie nur bei ihm, weil es sonst wahrscheinlich niemanden geben würde, der ihn liebe, so wie er ist.

Sie meinte, wenn sie jetzt ihren Mann schon nicht mehr finde, nütze sie die freie Zeit und gehe vermutlich noch bis zum Gipfel rauf. «Ja, mach das, es weht aber heute ein kalter Wind da oben», sagte ich zu ihr.

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Zum Nachdenken:

«Der Egoismus ist für die Erhaltung des Individuums unerlässlich, der Altruismus für die Gattung.»

Dr. Raphael Bazardjian: Schopenhauer, Philosoph des Optimismus

 

In blinde Finsternis eingeht,
Wer ein Werden zu Nichts geglaubt, 
In blindere wohl noch jener,
Der ein Werden zu Etwas glaubt.

Übersetzung der Veden von Dr. Paul Deussen: Sechzig Upanishades

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Dr. Paul Deussen, Sechzig Upanishad's des Veda aus 1938: