Wenn man die Geschichte des berüchtigten und brutalen Kaisers Nero liest, erkennt man, dass die guten Regierungsjahre zu der Zeit waren, als er massgeblich unter dem Einfluss von Seneca dem Jüngeren stand. Man sprach sogar vom glücklichen «Jahrfünft». Seneca hat von den Zuwendungen seines «Schützlings» sehr profitiert und wurde innerhalb von 4 Jahren um 300 Millionen Sesterzen reicher. Als Seneca sich vom Hof zurückzog, spitzte sich die Situation zu. Mit dem Brand von Rom, für den Nero einen Schuldigen brauchte, eskalierte die Situation dann komplett und artete in der brutalen Christenverfolgung aus, für die Nero berüchtigt wurde.
Keinen anderen Philosophen nehme ich aufgrund seines Lebenslaufes so ambivalent wahr wie Seneca:
Auf der einen Seite stösst mich die abgehobene und dekadente Gesellschaftsschicht ab, in der er sich bewegt hat. Klar, er hat sich für die bessere Behandlung von Sklaven eingesetzt. Und über die Völlerei hat er gewettert. Aber er war ein Teil und vor allem einer der grössten Profiteure dieser Gesellschaft. Er wurde durch seine Nähe zu Nero zu einem der reichsten und einflussreichsten Männer des römischen Imperiums. Den Reichtum verteidigte er in seinen Schriften mehrmals. Er wusste, dass das zu Kontroversen führen würde. Da könnte man natürlich das Argument bringen, dass Stoiker ja ihren Platz im Universum akzeptieren, egal wie er ausfällt. Der Stoiker-Philosoph und Sklave Epiktet hat es ja vorgemacht. Aber Senecas fragwürdig angehäufter Reichtum und seine Schriften bringe ich nicht unter einen Hut.
Auf der anderen Seite treffen seine Aussagen vielfach genau ins Schwarze. Seine Werke sind beeindruckend. Sie sind heute noch aktuell und lesenswert. Er war ein Philosoph, der das Leben und die Gesellschaft analysierte. Aber vor allem reflektierte er das Leben anderer, nicht seins. Das dafür mit einem klaren und entlarvenden Blick. Das unterscheidet ihn wesentlich vom Stoiker Marc Aurel. Der hat vor allem sich und seine Handlungen reflektiert, was mir persönlich Marc Aurel wesentlich sympathischer macht.
Die Zitate von Seneca muten teilweise asiatisch an. Man würde sie eher dem Konfuzius zuordnen als ihm. Wie zum Beispiel folgende Zitate aus Von der göttlichen Vorsehung und Vom glückseligen Leben:
«Kein Baum ist fest und stark, der nicht häufigen Windstößen ausgesetzt ist.»
«Der Willige wird vom Schicksal geführt, der Widerstrebende gezerrt.»
Sehr inspirierend sind auch seine Gedanken in Über die Kürze des Lebens. Dieses Werk könnte mit etwas modernerer Ausdrucksweise aus der heutigen Zeit stammen. Er jammert darin aber nicht über die Kürze des Lebens, wie der Titel vermuten lässt, sondern zeigt auf die Menschen, die mit ihrem höchsten Gut fahrlässig umgehen:
«Nicht das Leben, das wir empfangen, ist kurz, nein, wir machen es dazu; wir sind nicht zu kurz gekommen; wir sind vielmehr zu verschwenderisch.»
«Die grauen Haare und die Runzeln geben dir also keinen hinlänglichen Grund zu glauben, es habe irgendeiner lange gelebt: Nicht lange gelebt hat er, er ist nur lange da gewesen.»
Und immer noch brandaktuell ist seine Ermahnung aus Vom glückseligen Leben, wenn man die heutigen faschistischen Tendenzen in diversen Staaten in Europa und weltweit beobachtet:
«Auf nichts also müssen wir mehr achten als darauf, nicht nach Art des Herdenviehs dem vorauslaufenden Schaf zu folgen: Wir würden dann nur den meist betretenen, nicht aber den richtigen Weg wählen.»
Aber den Geist, den er rief und gefördert hatte, wurde er nicht mehr los (frei nach Goethes Zauberlehrling). Nero schickte ihm nach Verschwörungsgerüchten die Aufforderung zur Selbsttötung, welcher Seneca nachkam.
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Zum Nachlesen:
Senecas Schattenseiten
Von der Kürze des Lebens
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