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Das Fernglas

Fotografie: ismael@rumundzeit.blog
Fotografie: ismael@rumundzeit.blog

 

Die meisten Philosophen waren es. Seneca war es im Überfluss. Marc Aurel sowieso. Der Sklavenphilosoph Epiktet war es zu Beginn nicht. Später dann schon. Auch ein Thomas von Aquin war es, wenn auch in einer anderen Form als Kant oder Platon. Sogar der bescheidene John Locke war es. Diogenes war es aber ganz und gar nicht. Wenn man denn einen, der öffentlich onaniert und wie ein Hund lebt, überhaupt als Philosophen gelten lassen will. Aber das sind vielleicht auch nur Anekdoten.

Die meisten aber waren es: privilegiert – in einer gewissen existentiellen Sicherheit und Freiheit zu leben. Wenn man nämlich mit Sorgen und Ängsten überladen ist und um sein Wohl und seine Unversehrtheit besorgt ist, denkt man sicher zuletzt an Philosophie. Ein Mensch auf der Flucht oder in einem Kriegsgebiet, der hat keine Zeit und keine mentalen Ressourcen, um sich Gedanken über das Leben zu machen – nur ums Überleben.

Aber da war doch der Marc Aurel, der war ja im Krieg. Der hat seine Selbstbetrachtungen auf den Feldzügen geschrieben. Ja, das hat er. Er ist aber auch nicht mit dem Schwert in der Hand, Auge in Auge, den Barbaren gegenübergestanden. Er war Kaiser und Oberbefehlshaber. Wenn nicht er, wer war dann privilegiert?

Der Thomas von Aquin, der war aber sicher nicht privilegiert. Der war ja ein Mönch! Doch, war er. Zwar nicht in dem Sinne von Besitz, wie wir das heute interpretieren würden, aber als Mönch war man im Mittelalter definitiv gegenüber einem Grossteil der Bevölkerung besser gestellt. Die hungerten wenigstens nicht wie die Bauern rund um die Klöster. Thomas von Aquin war ja für seine Körperfülle bekannt. Martin Luther meinte sogar, dass man ein Loch in den Tisch schneiden musste, damit er zu Tisch sitzen konnte. Aber das ist sicher auch nur eine Anekdote.

Den Sklavenphilosophen Epiktet hingegen kann man aber nun wirklich nicht als privilegiert betiteln. Einen unfreien Sklaven? Im Römischen Reich ging es teils Sklaven gar nicht mal so schlecht, was natürlich den Besitz von anderen Menschen in keiner Weise gutheissen soll. Gebildete Sklaven konnten als Sekretäre, Buchhalter oder sogar als Lehrer arbeiten. Sie halfen bei der Verwaltung von Geschäften und Haushalten und unterrichteten Kinder. Sie konnten sparen und sich freikaufen. Epiktet wurde für seine Verdienste die Freiheit geschenkt und er begann, Philosophie zu lehren. Also war er schlussendlich auch ein Privilegierter.

Was sie vor allem alle gemeinsam hatten: Sie waren alle gebildet. Oder? Ja, und das war in der Vergangenheit das Privileg schlechthin. Man musste aus gutem Haus kommen, damit man sich Bildung überhaupt leisten konnte. Oder als Mönch oder Nonne leben. Eine gewisse sprachliche Bildung ist einfach nötig, um zu philosophieren. Man sollte zumindest seine Gedanken und seine Erkenntnisse formulieren können. Das lernen wir ja heute zum Glück alle in der Schule. Aber ist denn wirklich eine akademische Bildung dafür notwendig? Nein. Schopenhauer hat die akademische Bildung sogar als das grösste Hindernis für das freie Denken betitelt und eine Abhandlung darüber geschrieben: Über die Universitäts-Philosophie.

Was sicher essentiell ist, ist, dass man seine Meinung überhaupt frei äussern darf. Natürlich gab es auch Philosophen, die unter Lebensgefahr ihre Meinung vertreten haben. Die man nicht gerne gehört hat und die man am liebsten loswerden wollte. Wie etwa Giordano Bruno, den man schlussendlich auf dem Scheiterhaufen zum Schweigen gebracht hat. Es ist aber sicher förderlicher, wenn man die Freiheit hat, seine Gedanken zu äussern, ohne um sein Leben fürchten zu müssen. Leider war eher das Gegenteil die Regel. Nur während kurzer Phasen konnte man gefahrlos seine Meinung sagen. Man schaue zurück auf das Mittelalter hier in Europa. Als die Kirche und die Gewaltherrschaft einiger weniger die Bevölkerung und das Denken unterdrückten. Es herrschte ein Elend, das wir uns kaum vorstellen können. Und eine weit über tausendjährige philosophische Wüste. Bis auf ganz wenige Leuchtfeuer, die dieses dunkle Zeitalter erleuchteten.

Tauchen also viele Philosophen und Philosophinnen am Horizont auf, ist das ein gutes Zeichen. Dann scheint es auch der Gesellschaft besser zu gehen. Meistens erreichte die Philosophie ihre Blütezeiten, wenn es den Menschen recht gut ging und die Gesellschaft relativ frei und tolerant war. Entwickelt sich die Gesellschaft wieder zurück in eine unfreie, ist das erste, das zum Schweigen gebracht wird die Freidenkenden. Die sind dann plötzlich eine Gefahr. Das sieht man am besten in Diktaturen, Autokratien und Theokratien. Alle kritischen und freien Geister werden inhaftiert, umgebracht oder müssen fliehen. Ich sehe daher die Meinungsfreiheit als eines der höchsten Güter an, das wir besitzen. Die Meinungsfreiheit ist ein Indiz für den Zustand der Gesellschaft. Damit steht und fällt alles andere. Wenn irgendwo die Meinungsfreiheit eingeschränkt wird, sollten bei uns alle Alarmglocken läuten. Ich weiss welches Argument jetzt kommt: Dann muss ja auch Hassrede akzeptiert werden. Das ist zugegebenermassen eine Gratwanderung. Sie ist aber keine objektive Meinung, sondern eben der Ausdruck von Hass – einem Gefühl. Eine zu Worten formulierte Verblendung, die in höchstem Masse irrational ist.

Wenn man seine Gedanken frei äussern darf, bringt das halt auch provokante Denker hervor. Die braucht es um uns einen Spiegel vorzuhalten. Eine gesunde Gesellschaft sollte die aber auch aushalten. Wie etwa den Diogenes, diesen «Grüsel». Oder auch die Nervensäge Sokrates, der mit seiner Fragerei allen auf den Keks gegangen ist. Der hat es dann allerdings etwas zu weit getrieben, bis man ihn dazu verurteilt hat, sich das Leben zu nehmen – wegen Gottlosigkeit, sagt man. 

Abgesehen davon nervt Sokrates übrigens mit seiner Fragerei bis heute, mich zumindest. Man hat nicht mal einen Krater auf dem Mond nach ihm benannt. Aber nach Platon schon, der ja fast ausschliesslich Dialoge mit Sokrates geschrieben hat. Den Platon-Krater sieht man übrigens mit einem Fernglas gut.

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Der Platon-Krater:

Fotografie: ismael@raumundzeit.blog