Das hatte ich vorher noch nie erlebt. Keiner im Kinosaal ist, wie bei anderen Filmen sonst üblich, schon beim Abspann aufgestanden. Die Betroffenheit der Zuschauer war spürbar. Ich rede von dem Film Schindlers Liste, Anfang der Neunziger Jahre. Wenn einem das Grauen der Judenverfolgung so bildlich vor Augen geführt wird, hinterlässt das einen erschütternden Eindruck. Diesen Film werde ich kein zweites Mal ansehen.
Als Junge war es mir schon mal so ergangen, als ich von meinem Großvater Bücher geerbt hatte. Unter anderem den Antikriegsroman Im Westen nichts Neues von Erich Maria Remarque. Ohne Vorwarnung habe ich dieses Buch gelesen. Das zu einer Zeit, als das Schlimmste, was man im Fernsehen gesehen hatte, ein paar Beine eines Toten waren, die bei Derrick hinter einer Couch hervorgeguckt haben. Dieses Buch werde ich kein zweites Mal lesen.
Mit Theodor Adorno und seinem Werk Minima Moralia ist es mir ähnlich ergangen. Er beschreibt darin in kurzen Essays die zerstörte Gesellschaft im Zweiten Weltkrieg und holt wortgewandt zu einem Rundumschlag aus. Man würde am liebsten den Kopf in den Sand stecken. Genau das habe ich getan. Dieses Buch werde ich nicht fertig lesen.
Den Affekten sind wir hilflos ausgeliefert. Sowohl den Negativen als auch den Positiven. Nur dass wir die Positiven nicht verdrängen wollen. Bei den Negativen können wir zwar vielfach die Ursache beiseiteschieben oder ihr aus dem Weg gehen, und damit auch den Affekt unterdrücken. Aber auch nach Jahren braucht es nur einen kleinen Anstoß, und sie sind wieder da, die Willkommenen und leider auch die, welche einem lieber gestohlen bleiben könnten. Ein Buch aus der Kindheit, ein unangenehmer ehemaliger «Schulkollege», den man trifft, manchmal nur ein Name – und schon ist das Gefühl wieder da.
Ich glaube, ich lasse Adorno aber als Mahnmal doch noch in meinem Bücherregal – vielleicht… – oder doch lieber auf den Dachboden damit. In den Bücherkarton zu Remarques Im Westen nichts Neues.
_____________________
Zum Nachdenken:
«Man sieht leicht, dass die Affekte, sowohl die direkten, wie die indirekten, auf Lust und Unlust beruhen, so dass man, um [im Menschen] eine Gemütsbewegung zu erzeugen, nur ein Gut oder Übel ihm vorzuführen braucht. Fallen Lust und Unlust fort, so schwinden sogleich auch Liebe und Hass, Stolz und Kleinmut, Begehren und Abscheu, so wie die meisten anderen in der Selbstwahrnehmung gegebenen, also mittelbaren Eindrücke.»
David Hume, Traktat über die menschliche Natur, S.387
«Die weltlichen Wesen betrachten die Dinge auf drei Arten: Angenehme Objekte werden mit dem Gift der Anhaftung und Begierde betrachtet, unangenehme Objekte mit dem Gift der Abneigung und des Hasses und neutrale Objekte mit Unwissenheit in Bezug auf ihre wahre Art der Existenz.»
Geshe Rabten, Mahamudra S.97